Funktion. Der „guterfundene“ Ort Gletsch war „Transitstation im Alpenverkehr“, „grossartige[r] Wanderer-Umschlagplatz“ und alpine „Reisenden-Karawanserei“ sowie Pferdewechselstation im öffentlichen und privaten Pferdekutschenverkehr und das Hotel vielleicht zeitweise der „grösste Gasthof der Schweiz“ (Walliser Bote vom 20. Juni 1938, Nr. 67, S. 2 f.) vor oder nach der Kutschenfahrt (oder Fusswanderung) über die Pässe, die das Wallis mit den Kantonen Bern und Uri verbinden. [ Illustration 1: London Times vom 20. August 1868, Nr. 26, 208, S. 6 (Leserbrief, welcher Komplikationen beim Check-in für den Postkutschenkurs von Gletsch nach Brig schildert)] [ Illustration 2: Tarifliste der Fuhrhalterei Joseph Seilers um 1900] [ Illustration 3: Grafische Werbung für die Hotels am Rhonegletscher um 1900, welche sich an die Klientel als Kutschenfahrgäste wendet] Eine Fahrt talaufwärts von Brig her und anschliessend über die Furka beispielsweise nach Göschenen, wo seit 1882 die Gotthardbahn hielt, dauerte vor der Motorisierung des Strassenverkehrs rund zwölf Stunden, in der umgekehrten Richtung etwa elf (vgl. z.B. Karl Baedeker: Die Schweiz, 25. Auflage, Leipzig 1893, S. 110), erheblich länger als eine angenehme Tagesreise, was auf der damals 87 Kilometer betragenden Strecke die Einnahme mehrerer Mahlzeiten bei Halten mit sich brachte sowie mindestens eine Übernachtung notwendig machte oder zumindest nahelegte – vorzüglich an einem aus touristischer Warte landschaftlich attraktiven und aussergewöhnlichen Ort . Gletscher. Zur Bedeutung ebendieses Ortes trugen die Verzweigung der beiden Passstrassen bei, ein gastgewerbliches Angebot, das weitgehenden Ansprüchen (wie jenen des europäischen Hochadels) genügte, und ganz besonders die in den Reiseführern der Zeit gerühmte Nähe der beiden Hotels und auch der Strasse zum Rhonegletscher: „Nirgends in der Schweiz [konnte] man wie hier mit einem Wagen so nahe an den Rand eines chaotisch zerklüfteten, in seiner Farbwirkung herrlichen Gletschers fahren.“ (Meyers Reisebücher, Schweiz, 20. Auflage, Leipzig und Wien 1908, S. 213.) * * * Blick auf den Rhonegletscher und die Serpentinen der Furkastrasse bei Belvédère (das Hotelgebäude ist in der mittleren der fünf Haarnadelkurven zu erkennen) im Jahre 1894. * * * Zweite Hoteliersgeneration. Alexander Seiler der Ältere starb 1891. [ Nachruf von Leslie Stephen, dem Vater von Virginia Woolf, und Charakterisierung durch Edward Whymper, den Erstbesteiger des Matterhorns] [ Prospekt der Hotels Seiler Zermatt nach 1891] Joseph Seiler (1858–1929), der älteste Sohn, beschloss 1893, nachdem der Pächter in Gletsch in geschäftliche Schwierigkeiten geraten war (vgl. das Amtsblatt des Kantons Wallis, 1893, S. 1771), sich beruflich in der Hauptsache diesem Ort zu widmen. Joseph war in der Zermatter Hotelwelt seiner Eltern aufgewachsen, dem in der Belle Epoque wohl grössten gastgewerblichen Unternehmen der Schweiz (vgl. z. B. Neue Zürcher Zeitung vom 24. Juni 1977, Nr. 146, S. 67), und hatte sich in Rom und London fachlich fortgebildet. Er erweiterte die Hotelsiedlung seit den 1890er Jahren stetig und schuf mit bedeutenden Walliser Möbeln des 17. und 18. Jahrhunderts, deren Wert in der Region noch kaum erkannt wurde, und anderen Antiquitäten (insbesondere auch historischen Bildzeugnissen des Gletschers und der Gegend) ein aussergewöhnliches Hotelinterieur, das dem Geschmack seiner internationalen Klientel entsprach. Die Ehegattin Alexander Seilers des Ältern, Katharina Seiler-Cathrein (geb. 1834), verschied 1895. Nach der Jahrhundertwende wurden die zahlreichen Schwestern von ihren drei Brüdern Joseph, Alexander dem Jüngern (1864–1920) und Hermann (1876–1961) ausbezahlt und die Hotelbetriebe samt zugehörigen Immobilien in die Gesellschaft Alexandre Seiler & Frères eingebracht. [ Prospekt der Hotels Seiler Zermatt bis 1904] [ Prospekt der Hotels Seiler Zermatt zwischen 1904 und 1907] Im Jahre 1907 schied Joseph Seiler in Zermatt aus und wandte sich fortan ganz dem Geschäft beim Ursprung der Rhone zu, seine beiden Brüder bildeten die Gesellschaft Alexandre Seiler & Frère, welche folgende neun Häuser betrieb: Monte Rosa, Mont Cervin, Victoria (1904 neu erworben), Zermatterhof, Bahnhofbuffet, Riffelalp, Riffelberg, Belvédère (auf Gornergrat) und Schwarzsee (Gazette du Valais vom 8. August 1907, Nr. 92, S. 2). Im folgenden Jahr wurde die Kollektivgesellschaft mit Sitz in Zermatt im Zusammenhang der Vergrösserung des Hotels Victoria in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Angebot. Das Haus im Talgrund von Gletsch samt Dépendance bot in der späteren Belle Epoque bis zu 320 übernachtenden Gästen Platz, in den 1920er Jahren zwischen 200 und 250 und bis in die 1980er Jahre noch 150. Um 1882 war etwa 500 Meter höher und eine Kutschenfahrtstunde entfernt Richtung Furkapass an der Gletscherflanke mit panoramischem Blick auf die Walliser und Berner Alpen das Hotel Belvédère entstanden, das in der Belle Epoque wie das Hotel Glacier du Rhône wiederholt vergrössert wurde und in seiner Blütezeit 90 Reisende zu beherbergen vermochte. In der Saison 1907 beispielsweise blieben im Glacier du Rhône 13'540 Gäste über Nacht, im Belvédère 2500. An blossen Restaurantgästen zählte das Haus im Tal rund 3700, jenes in der Höhe 4900. * * * Die Hotelsiedlung ungefähr zwischen 1894 und 1900, (kurz vor oder) nach der Eröffnung der Grimselpassstrasse im Jahre 1895. Die Funktion einer Pferdewechselstation verdeutlichen links im Bild die Stallungen mit zahlreichen Pferdekutschen davor. Das Hauptgebäude erscheint um ein Stockwerk erhöht, masardiert und im Nordosten, in Richtung Gletscher, um einen gegen die Strasse hin vorspringenden Trakt mit fünf Fensterachsen erweitert, in dem sich der grosse Speisesaal befindet. Jenseits der Rhone ist die Dépendance Blaues Haus in einer ersten Ausbaustufe zweistöckig, mit mansardiertem Dach und sieben Fensterachsen zu sehen. Die Gletscherzunge hat sich zurückgezogen, reicht aber noch bis in den Talgrund. * * * Reputation und Klientel. Das Glacier du Rhône galt als „ausgezeichnet geleitete[s]“ Hotel „in grossartiger Lage“. „In diesem [fand] bei höchst vornehmer internationaler Gesellschaft, die in ein-, zwei- und dreispännigen Wagen herbeiströmt[e], auch der Turist Berücksichtigung“ (Karl Kinzel: Wie reist man in der Schweiz? Schwerin 1913, S. 89). * * * Arrivées und Départs der Pferdekutschen vor dem Glacier du Rhône ungefähr im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg. Rechts eine Postkutsche wie jene des Kurses Grimsel-Gletsch-Furka, die heute im Innenhof des Stockalperschlosses in Brig und im Verkehrshaus in Luzern stehen. Die Dépendance Blaues Haus weist seit kurz nach der Jahrhundertwende ein zusätzliches Stockwerk und ein Mansartdach auf. * * * Post- und Mietkutschen. Fusswanderer. Joseph Seiler war Konzessionär der Postverwaltung für die Fahrstrecken der Postkutsche zwischen Münster, Guttannen und Tiefenbach einerseits und Gletsch andererseits. Ergänzend betrieb er eine Fuhrhalterei, die das Strassennetz zwischen Meiringen, Göschenen, Domodossola und Orta mit ein- bis vierspännigen Gefährten bediente. Durchschnittlich dürften täglich rund vier bis sechs Dutzend Reisende je mit der Post bzw. gemieteten Wagen in Gletsch angekommen sein. In der späteren Belle Epoque verliessen an Hochsommertagen manchmal 10 bis 15 Wagen mit bis zu sechs oder acht Plätzen den Ort gleichzeitig Richtung Brig, Grimsel und Furka. In Gletsch standen Stallungen für 200 Pferde zur Verfügung (Gazette du Valais vom 28. August 1906, Nr. 97, S. 2; vgl. auch Gazette du Valais vom 15. August 1906, Nr. 92, S. 3). Weniger bemittelte Reisende wanderten zu Fuss über die Pässe; die Dépendance Blaues Haus war auf deren meist bescheidenere Ansprüche ausgerichtet. Eisenbahn. Da der Hotelier um die Bedeutung des Ortes als Transitstation des Pferdekutschenverkehrs wusste und er selber eine Fuhrhalterei mit bis zu 180 Pferden besass, sah er den Bau der Brig-Furka-Disentis Bahn vor dem Ersten Weltkrieg nicht ohne Bedenken. Im Gegenzug für die Überlassung von Land für das Bahntrassee stellte er die Forderung, die Züge zur Mittagszeit eine Stunde in Gletsch warten zu lassen, um die Passagiere zur Einnahme einer Mahlzeit zu bewegen. Die abendlichen Züge endeten in Gletsch, um die Anzahl der Übernachtungen zu erhöhen. So versuchte der Hotelunternehmer der Bahn den Reiserhythmus der Pferdekutschen aufzuerlegen.
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